Arzt-Patient-DiGA: Wie gelingt die Dreiecksbeziehung?

Sind Apps auf Rezept aus Perspektive der Ärzt:innen ein Fortschritt oder Fehlversuch? Wir haben Dr. med. Philipp Stachwitz um Antworten gebeten. Er verrät, wo sich die Welt der Medizin und Digitalisierung treffen können.

8 Min. Lesezeit
Portrait Rehmesmee Gojowy
Copywriterin und Content Strategist bei Kaia Health

Rehmesmee schreibt im Kaia Health Magazin über alle Themen, die Menschen mit Rückenschmerzen und COPD bewegen.

Portrait Dr. med. Philipp Stachwitz

„Die Digitalisierung sinnvoll zu nutzen, ist eine der großen Herausforderungen der Gesundheitspolitik der nächsten Jahre. Wenn wir die Chancen des digitalen Wandels ergreifen, können wir den Patient:innen-Alltag besser machen”, so unser ehemaliger Gesundheitsminister Jens Spahn im Jahr 2019.1 Sechs Monate später sollte er das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) verabschieden und damit den Weg für eine Reihe von digitalen Lösungen ebnen. Unter ihnen die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), auch bekannt als „Apps auf Rezept”.

Drei Jahre ist es her, seit die ersten Ärzt:innen eine DiGA verordnet haben. Heute suchen DiGA-Hersteller nach Wegen, ihre digitalen Behandlungsangebote in der Versorgung zu verankern, während die medizinische Fach-Community um Evidenz und die Rolle der digitalen Helfer in der Arzt-Patienten-Beziehung diskutiert. Was sind die größten Befürchtungen auf Seiten der Ärzt:innen? Und was können DiGA-Hersteller tun, um medizinischen Ansprüchen und damit auch den Bedürfnissen der Patient:innen gerecht zu werden?

Als DiGA-Hersteller ist es uns ein besonderes Anliegen, den Dialog mit Ärzt:innen zu führen und so ein Verständnis für die Bedürfnisse und Ansprüche beider Seiten zu erlangen. Viel Freude mit diesem Interview!

Guten Tag, Herr Dr. Stachwitz! Wir haben Sie zum Interview eingeladen, weil Sie einerseits Schmerztherapeut sind und sich zugleich seit 20 Jahren mit Digitalisierung im Gesundheitswesen beschäftigen. Eine sehr spannende Mischung! Erzählen Sie unseren Leser:innen kurz, was man unbedingt über Sie wissen sollte.

Gerne, guten Tag. Ich bin Facharzt für Anästhesie mit der Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie, also Schmerztherapeut. Ich habe mich schon in meiner Weiterbildungszeit viel mit Schmerztherapie beschäftigt und meine Doktorarbeit über Oxycodon, ein Schmerzmedikament, geschrieben. Ich bin dann um 2000 in den Bereich der Digitalisierung gegangen, aber nach einigen Jahren wieder in die Medizin eingestiegen. Ehrlich gesagt hat mir damals die sehr schroffe Ablehnung der verfassten Ärzteschaft gegenüber dem Thema zu schaffen gemacht. Und ich wollte wieder mit Patient:innen arbeiten, was ich seit 2015 als ambulanter Schmerztherapeut tue.

Mittlerweile mache ich beides parallel mit einem Fokus auf digitale Medizin. Die Diskussionen sind immer dieselben – was das für ein Jammertal ist, wie wir generell mit der Digitalisierung in Deutschland unterwegs sind.

Auf Kaia Health bin ich übrigens 2018 aufmerksam geworden, als es noch keine Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) gab.

Sie haben schon früh angefangen, sich mit Digitalisierung zu beschäftigen. Im denglischen Fachjargon würden wir Sie einen „Early Adopter“ nennen. Wie hat sich in Ihrem Erleben die Haltung der Ärzt:innen in den letzten Jahren verändert?

Ich bin überzeugt, dass die Digitalisierung nicht das ist, was oft befürchtet wird. Viele Ärzt:innen haben gesagt und sagen auch heute noch, dass sie Angst haben, dass Digitalisierung zu einer Medizin führt, die sich von den Patient:innen abwendet. Quasi eine Medizin, die Patient:innen nicht mehr beachtet, weil die Ärzt:innen immer nur auf den Bildschirm gucken und sich mit Daten beschäftigen. Dabei soll es ja darum gehen, sich dem Menschen zuzuwenden – der körperlichen Beschwerde, den psychischen Aspekten und auch dem Patienten oder der Patientin als soziales Wesen. Gerade diese Faktoren spielen ja auch bei der Behandlung chronischer Schmerzen eine wichtige Rolle.

Die Befürchtung, dass Digitalisierung das per se behindern könnte, hatte ich nie, weil ich denke, es liegt sowieso an uns, egal ob wir mit Papier oder mit einem Computer arbeiten. Ich kann auch als Arzt die ganze Zeit nur in eine Papierakte reingucken und die Patient:innen kaum anschauen. Es sind ganz andere Faktoren, die zählen, zum Beispiel die kommunikativen Fähigkeiten.

Die Digitalisierung hat durchaus das Potenzial, mir zu helfen. Wenn mir Informationen schriftlich und am besten noch gut strukturiert in einer Übersicht zugänglich sind, weiß ich schneller über die harten Fakten aus der Vorgeschichte der Patient:innen Bescheid. So habe ich eine gute Grundlage für ein Gespräch über die Dinge, die ihr oder ihm jetzt wichtig sind. Das macht das Gespräch besser und schneller.

Ich brauche zum Beispiel nicht fünf Minuten, um eine Medikamentenanamnese zu machen und Daten in mein System zu übernehmen, weil das schon digital erfasst wurde. Und diese Chancen und großen Vorteile der Digitalisierung sehen heute die allermeisten meiner Kolleg:innen – davon bin ich überzeugt.

Ich war dieses Jahr das erste Mal auf einem Ärztekongress und es hat mich überrascht, dass so viele Vorbehalte gegenüber DiGA kursieren. Ich war ein bisschen frustriert danach, und hab mich gefragt: Wie kann ich die Vorteile am besten rüberbringen? 

Ich will nicht bestreiten, dass es kritische Diskussion rund um das Thema DiGA gibt. Die DGIM hat eine sehr aktive Kommission für digitale Transformation der Inneren Medizin, darunter auch die AG DiGA. Vorrangig geht es um zwei Faktoren, allen voran die berechtigte Forderung nach wissenschaftlicher Evidenz. Besonders, da DiGA von den gesetzlichen und vielen privaten Krankenversicherungen bezahlt werden, sollte das der Anspruch sein. So sehen das auch alle wissenschaftlich fundiert tätigen Ärzt:innen, schließlich ist das im Sinne der Patient:innen. Die Patient:innen erwarten, dass sie auf wissenschaftlicher Grundlage von uns behandelt werden, deshalb muss der Anspruch an den wissenschaftlichen Nachweis hoch sein. Aber das wird ja auch von niemandem bestritten und auch von keinem DiGA-Hersteller.

Idealerweise sollte es eine Dreiecksbeziehung zwischen Ärzt:in, Patient:in und der digitalen Gesundheitsanwendung geben.

Dr. med. Philipp Stachwitz

Ein anderer wesentlicher Faktor ist die Beziehung zwischen ärztlicher Therapie, Funktion der DiGA und der Patientenerwartung. Manche Ärzt:innen befürchten, dass DiGA im schlechtesten Fall die Ärzt:innen ersetzen. Das muss aber ja nicht einmal schlecht sein, denn vielleicht ersetze ich etwas, wofür ich den Arzt gar nicht brauche oder eine DiGA ergänzt die Therapie in einem Umfang, den ein Arzt nicht leisten kann. Leider wird durch die Formulierung im Gesetz die digitale Alleinstellungsfunktion sehr in den Vordergrund geschoben. Wenn ein DiGA-Hersteller sagt: „Ich sehe bewusst vor, dass auch Ärzt:innen an der Therapie beteiligt sind”, dann sagt nach meinem Eindruck im Zulassungsverfahren das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) relativ schnell „Nein, das darf nicht sein, dann heilt ja gar nicht mehr die DiGA selbst”.

Hier würde ich gerne die Frage anschließen, wie sich die Rolle der Ärzt:innen durch die Digitalisierung verändert? Was genau braucht es, um genau diese Dreiecksbeziehung, die Sie gerade beschrieben haben, herzustellen?

Ich bin überzeugt, dass ich als Arzt erstmal den Anspruch haben muss, jede DiGA, die ich verschreibe, selber zu verstehen – ihre Funktionsweise und damit verbunden natürlich auch das Maß an verfügbarer wissenschaftlicher Evidenz. Wie wirkt diese DiGA überhaupt? Was ist der Wirkmechanismus und wie macht sie das? Wann macht eine Behandlung Sinn und wann nicht? So handhaben wir es auch mit anderen Innovationen in der Medizin. Es gibt erstmal einen Prozess, der teilweise über fünf bis zehn oder noch mehr Jahre gehen kann, bis die medizinische Fach-Community verstanden hat, wie eine Innovation funktioniert.

Natürlich geht es auch darum, die Risiken und Nebenwirkungen zu kennen. Das ist mein erster Anspruch als Arzt und das gilt auch für DiGA.

Für die Behandlung von chronischen Schmerzen sind die Berücksichtigung des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells und ein multimodaler Therapieansatz von zentraler Bedeutung. Und wenn ich eine DiGA verordne, will ich natürlich wissen, wie diese Faktoren digital berücksichtigt und umgesetzt sind.

 Was sind Vorurteile, die Sie auf Seiten der DiGA-Hersteller wahrnehmen?

Es wird immer von „digitaler Kompetenz“ gesprochen. Ich habe ein bisschen das Gefühl, es wird so getan, als seien Ärzt:innen in Bezug auf digitale Werkzeuge irgendwie extra doof. Was ich ungerechtfertigt finde. Ich würde sagen, Ärzt:innen sind genauso schlau oder doof wie andere Durchschnittsakademiker in Bezug auf Digitalisierung. Da gibt es die ganze Bandbreite von sehr interessiert und sehr affin bis hin zu eher zurückhaltend und nicht so affin. Aber tendenziell steigt der Anteil der Digital-Affinen und -Erfahrenen. Das sehen wir ja bei allen Berufsgruppen.

Ich habe ein bisschen das Gefühl, es wird so getan, als seien Ärzt:innen in Bezug auf digitale Werkzeuge irgendwie extra doof. Was ich ungerechtfertigt finde. Tendenziell steigt der Anteil der Digital-Affinen und -Erfahrenen. Das sehen wir ja bei allen Berufsgruppen.

Dr. med. Philipp Stachwitz

Für Kaia Health sind das natürlich wichtige und interessante Anregungen für unsere Gespräche mit Ärzt:innen. Eine letzte Frage, wo stehen wir in 20 Jahren in Ihrem Fachgebiet, der Schmerztherapie? Und spielt KI, also künstliche Intelligenz, da eine Rolle?

Aus meiner Sicht würde ich mir erhoffen, dass wir in unserem Gesundheitswesen besser werden in dem, was als „continuity of care” bezeichnet wird, also eine fortlaufende Versorgung der Patient:innen mit Therapien von höchster Qualität. Und auch mehr Möglichkeiten zu schaffen, multimodale Schmerztherapien durchzuführen.

Eine Behandlung durch verschiedene Berufsgruppen in ambulanten, tagesklinischen und vollstationären Settings ist weniger eine spezifisch medizinische, sondern vielmehr eine organisatorisch-strukturelle Frage für ein Gesundheitswesen. Schafft es ein Gesundheitswesen, Goldstandards in der Behandlung besser ambulant umzusetzen, natürlich auch unter Einbeziehung oder noch verstärktem Einsatz von digitalen Hilfsmitteln? Da haben wir in den nächsten 20 Jahren hoffentlich viel zu erwarten.

Zum Thema KI teile ich die Einschätzung einiger Kolleg:innen, dass es natürlich große Risiken gibt. Aber auch, dass gerade die Medizin ein Bereich sein kann, der unheimlich von KI profitieren kann. Ich nutze auch ChatGPT immer wieder mal. Manchmal finde ich es einfach lustig oder spannend, manchmal hilft es mir ernsthaft. ChatGPT erspart mir zum Beispiel oft das ewige Googeln, wenn ich Computer-Probleme lösen will und gibt mir in diesem Kontext super Antworten, die einfach und richtig sind, da es die ganzen Hilfetexte durchsucht. Die Antworten sind so, als würde ich jemanden anrufen, der es einfach weiß. Und ich kann sogar nochmal nachfragen. Wenn wir das – sicher und verlässlich! – für die Medizin umsetzen, wird ja sofort klar, was da für Möglichkeiten drin stecken für uns als Ärzt:innen und damit auch für unsere Patient:innen.

Natürlich kann man eine dystopische Zukunft malen. Ich meine, angesichts der heutigen Weltlage kann man das aus 1.000 Gründen und nicht nur wegen ChatGPT. Aber andererseits stecken wirklich auch ganz große Chancen dahinter.

Wir sind sehr gespannt auf die Entwicklungen der nächsten Jahre! Vielen Dank für das angenehme und interessante Gespräch.

Quellen
  1. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2019/gesundheitsministerkonferenz
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Bild für das Interview Philipp Stachwitz, Schmerzexperte
Über Dr. med. Philipp Stachwitz

Als Facharzt für Anästhesiologie und Spezielle Schmerztherapie setzt sich Dr. Stachwitz schon seit Jahrzehnten für eine Digitalisierung der Medizin ein, die sowohl Patient:innen dienen als auch den Arbeitsalltag von Ärzt:innen erleichtern soll.

Bereits 2004 war er verantwortlich für die Stabsstelle Telematik der Bundesärztekammer und später auch bei der gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH) in beratender Funktion tätig.

Vom health innovation hub (hih) des Bundesministeriums für Gesundheit führte es ihn zur Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), die er seit Anfang 2022 als Berater für Digitale Medizin unterstützt.

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